Twitter, wir müssen reden …

Ob mit oder ohne Elon Musk – Twitter hat nur eine einzige Chance: Es muss seinen Algorithmus ändern, der die Lauten polarisiert und die Leisen zum Schweigen bringt.

Freitag, der 28. Oktober 2022. Heute wird er wohl verkündet, der Deal: Elon Musk übernimmt Twitter. Stürmische Zeiten stehen dem sozialen Netzwerk bevor: Proteste der Belegschaft, Köpferollen im Management, höchst umstrittene Lockerungen in der Moderation und befürchtete Qualitätsverluste. Manche prophezeien schon süffisant den kommenden Massen-Exit der User*innen. Geht Twitter also wegen Elon Musk den Bach runter?

 

Die Wahrheit dürfte woanders liegen – und ist noch brisanter: Seit Beginn der Pandemie verliert Twitter seine „Heavy Tweeters“, wie Reuters diese Woche aus internen Twitter-Dokumenten enthüllte. Zugleich habe sich der inhaltliche Fokus unter englischsprachigen Heavy Users deutlich verschoben: Kryptowährungen, Nacktheit und Pornografie sind die am stärksten wachsenden Themen, während das Interesse an Nachrichten, Sport und Unterhaltung, Mode und Celebrities abgenommen hat. Auch die noch vor kurzem stark wachsenden Communities für E-Sports and Online Streaming verzeichnen plötzlich Einbrüche.

 

Miese Kurse, müde User

 

Bevor jetzt das große Twitter-Bashing beginnt: Auch andere große soziale Netzwerke sind nach einer Dekade der Dominanz am Kämpfen, wie die New York Times erst vorgestern in „A Social Media Status Update“ [Paywall] auflistete: Meta schreibt Miese, verpulvert Milliarden im Metaverse und hat 60 Prozent seines Aktienwerts verloren. Snap entlässt 20 Prozent der Belegschaft und verliert 80 Prozent seines Aktienwerts. Selbst Shooting Star TikTok sei für den Fall, dass U.S. Regulatoren einen Zugriff und Einfluss der chinesischen Regierung auf ByteDance nachweisen können, davon bedroht, von einem Tag auf den anderen aus den App Stores zu fliegen.

 

Nach Gelde drängt, am Gelde hängt doch alles … Umso hektischer vervielfachen die Netzwerke ihre Werbekontakte, kleistern die Newsfeeds mit Sponsored Posts und „Empfehlungen“ der Algorithmen voll. Zugleich greift bei den User*innen die Social Media Fatigue um sich: Speziell in den letzten zwei, drei Jahren sind Reichweite und Interaktionsraten von Social-Media-Posts fast überall dramatisch gesunken. 

 

Auf der Suche nach den verlorenen Followern

 

Ich spüre die Krise der Social-Media-Reichweite am eigenen Leibe: Über meinen Twitter-Account @guenterexel (knapp unter 6000 Follower) erreichte ich früher mit einigen meiner Tweets regelmäßig vierstellige Impressionen. Heute überspringt die Reichweite meiner Posts in der Regel nur mehr knapp den Hunderter.  

 

Ist mein Content so viel schlechter geworden? Oder sind neun Zehntel meiner Follower nicht mehr aktiv? Gibt es kein Publikum mehr für News und Background-Informationen aus Tourismus, Social Media und Marketing? Oder ist auf Twitter nur mehr ein Haufen bösartiger, misogyner Großmäuler zugange, die sich auskotzen und ihre schlechte Laune über die Welt verbreiten?

 

Halt – das ist jetzt der kritischste Punkt in meinen Überlegungen: Ich könnte jetzt abdriften und über die toxische Gesprächskultur auf Twitter herziehen, die das gesamte Netzwerk vergiftet und die User*innen vertreibt. Doch das würde bedeuten, die Symptome mit der Ursache zu verwechseln. Um letztere abzuschätzen, gilt es, zuvor noch einen Schritt zurückzutreten …

 

It’s the algorithm, stupid!

 

Praktisch alle Social-Media-Plattformen haben in den letzten zwei Jahren begonnen, die organische Reichweite von Postings nochmals deutlich einzuschränken. Dieser Reichweiteneinbruch hat sich im Jahr 2022 noch einmal beschleunigt. Eine wesentliche Rolle spielen dabei, so meine These, Änderungen und Zuspitzungen im Algorithmus von Twitter, Facebook & Co. 

 

Die meisten sozialen Netzwerke haben ihren Schwerpunkt von chronologischem Content auf „relevanten“ Content gelegt, wobei Relevanz je nach Netzwerk unterschiedlich definiert wird. Während für Facebook persönliche Beziehungen und Interaktionen die entscheidende Rolle spielen, geht z.B. Instagram immer mehr in Richtung „Discovery Engine“: Statt Content aus dem eigenen sozialen Umfeld wird deutlich mehr algorithmus- und trendbasierter (Video-)Content ausgespielt – und zwar auch von Accounts, denen die Nutzer*innen nicht folgen.

 

Das Ende des sozialen Creators

 

Diese strategische Abkehr vom Grundgedanken eines „sozialen“ Netzwerks ist am Erfolgsrezept von TikTok orientiert: Die Nutzer*innen sollen länger auf der Plattform gehalten werden – was sowohl Nutzungszeit wie auch Werbekontakte erhöht. Das verhilft der Plattform kurzfristig zu höheren Umsätzen – hat aber verheerende Folgen für den Charakter der Nutzung. Warum? Weil in einer „Discovery Engine“ der Anreiz sinkt, selbst als Content-Creator tätig zu werden. 

 

Zum einen wächst die Herausforderung, sich an dem vom Algorithmus empfohlenen Content zu messen. Die Hürde, ein TikTok-Video zu drehen, ist höher, als schnell ein Foto vom Sonnenuntergang auf Facebook zu posten. Zum anderen überspielt der von den Algorithmen gepushte Content die Postings aus dem eigenen sozialen Umfeld. Das bedeutet: Ich sehe nicht nur weniger von den Accounts, denen ich folge – auch meine Follower sehen weniger von mir. 

 

Der Fluch der Twitter-Startseite

 

Speziell bei Twitter hat sich diese inhaltliche Schere seit Beginn der Corona-Krise deutlich zugespitzt. Theoretisch ist in der App der Umstieg zwischen persönlicher Startseite (vom Algorithmus getrieben) und chronologischer Timeline  (mit Content von Usern, denen ich folge) möglich. Diese Option wird von den User*innen aber kaum genutzt – u.a. auch deshalb, weil die Twitter-App immer wieder selbsttätig auf den Algorithmus-Feed umschaltet. 

 

Zusätzlich spielt die Twitter-Startseite in den vergangenen Jahren zunehmend „empfohlene“ Tweets von Accounts ein, denen der User selbst nicht folgt („@XXXXXX folgt“, „@ZZZZZZ gefällt das“). Das bevorzugte Ausspielen von Content, der möglichst viele Interaktionen erzeugt, schränkt allerdings die Sichtbarkeit von informativem Content „normaler“ Accounts ein. Das Resultat: eine verstärkte Bildung von Bubbles mit hohem Aufreger-Potenzial, die Tweets mit unterhaltendem und emotionalem Wert produzieren. 

 

Und hier tritt der Fluch des Twitter-Algorithmus zutage: Je mehr der User auf diesen Content reagiert (indem er z.B. ein Video betrachtet), desto mehr verschiebt er wiederum (ungewollt, weil getrieben) seinen eigentlichen inhaltlichen Fokus. Einmal auf einen Thread zum Ukraine-Krieg geklickt – schon bekomme ich fleißig Kriegscontent ausgespielt. Einmal beim Bären-Video hängengeblieben – schon liefert mir Twitter weitere Bären-Videos. Und leistet allen Content-Creators damit einen Bärendienst.

 

Von der Town Hall zum Zeterzimmer

 

Die Schattenseite dieser Zuspitzung des Algorithmus auf Aufreger und Emotionsduschen bekamen wir gerade in den vergangenen zwei Jahren zu spüren. In der ersten Phase von Corona wurden soziale Netzwerke noch einmal stark als private Plattform genutzt. Schon bald aber wurden immer mehr Inhalte von politischem, medizinischem und öffentlichem Interesse geteilt, diskutiert, manipuliert und hysterisch bekämpft. 

 

Besonders Twitter verlor in dieser Zeit seinen Status als „Town Hall“, als Marktplatz der besten Ideen: Die Plattform wurde zum Zankapfel, zum Zeterzimmer, zur Zornmühle. Zum sozialen Wutgewitter, das man nicht mehr gestärkt, mit Erkenntnisblitzen, sondern niedergeschlagen, mit Donnergrollen verlässt.

 

Kein Ort für Unaufgeregtes

 

Diese atmosphärische Veränderung stieß nicht nur viele Nutzer*innen im privaten wie kommerziellen Segment ab: Sie führte auch dazu, dass bisher in kleineren wie mittelgroßen Kreisen geführte Gespräche zum Erliegen kamen. In der Hysterie der Startseite erlangte Unaufgeregtes keine Sichtbarkeit mehr – dem Twitter Algorithmus sei Dank. Auch hochwertiger, informativer und multimedial aufbereiteter Content reicht heute meist nicht mehr aus, um auf eine akzeptable Sichtbarkeit zu kommen.

 

Ich sehe weniger von den Accounts, denen ich folge – und meine Follower sehen weniger von mir: Diese Entwicklung ist besonders auf Twitter festzustellen. Und sie ist verhängnisvoll für all jene, die eine Botschaft haben – oder ein Anliegen, das nicht gleich polarisiert oder emotionalisiert. Sie finden kein Publikum mehr dafür, weil das Publikum nicht mehr zu ihnen findet. Aber, keine Sorge: Für Accounts mit einer Botschaft haben die sozialen Netzwerke immer noch eine Lösung …

 

Sollen sie doch Werbung kaufen!

 

Quer durch alle sozialen Netzwerke ist der Anteil von Werbung im Feed in den letzten Jahren deutlich gestiegen – auch dies natürlich zulasten der Sichtbarkeit von generischem Content. Besonders auf Facebook, aber auch einem B2B-Netzwerk wie LinkedIn gilt: Postings von Unternehmen oder Seiten werden vom Algorithmus deutlich schlechter gewichtet und seltener ausgespielt als z.B. Postings von Personenprofilen. 

 

Der Hintergrund dieser Strategie ist klar: Unternehmen sollen für Sichtbarkeit zahlen. Der beste Weg, eine akzeptable Reichweite von Beiträgen zu erzielen, ist also das Bewerben eines Beitrages. Das geht eine gewisse Zeitlang auch gut und mag Erfolg haben – solange dieser relevante Inhalt nämlich noch auf interessierte Leser*innen trifft. Aber das geht dann schief, wenn die interessierten Leser*innen in Scharen abwandern. Wenn Communities sich verabschieden, weil sie keinen Ort mehr für ihre Gespräche haben.

 

Twitter, wir müssen reden …

 

Und damit sind wir zurück beim Freitag, dem 28. Oktober 2022. Ganz gleich, was Elon Musk ab sofort mit Twitter anstellt: Er hat nur eine Chance. Er muss die ernst nehmen, die einen Ort für unaufgeregte Gespräche brauchen. Twitter hat es ordentlich verschissen mit seinem Algorithmus, der die Lauten polarisiert und die Leisen zum Schweigen bringt. Der aktuelle Glaubenskrieg zur Moderation der Lauten beschäftigt sich nur mit den Symptomen. Viel wichtiger wäre die Erkenntnis zur Ursache: Die Leisen müssen wieder eine Stimme bekommen. 

 

Twitter, wir müssen reden … Wir, das sind deine Nutzer*innen. Als Communities wollen wir nicht zetern, sondern uns austauschen. Aber dafür müssen wir sichtbar bleiben für all jene, die an uns interessiert sind. Wenn du das nicht kapierst, gibt es für dich keine Zukunft.

 

 

Foto: Realizing Progress / Greg Snell

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Kommentare: 1
  • #1

    Elfriede Krempl (Samstag, 29 Oktober 2022 06:50)

    Danke, sehr hilfreich